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Ein Seiltanz

"Ich denke so ein Lauf da, den machst du nicht fürs Publikum, den Lauf machst du für dich selbst. Das ist ein Ehrgeiz, der dich da packt. Gut, du hast da deine Gage, klar, aber wenns ums Geld ging könnte man was anderes tun, da bräuchte man nicht sein Leben aufs Spiel setzen, oder sich selbst etwas beweisen. Das ist eigentlich eine einsame Sache."


„Das ganze Leben ist wie eine Balance, zwischen Gut und Böse, zwischen Freude und Leid, und der Schmerz und Freude liegen auch eng beieinander und das ganze Leben ist ein Balanceakt. Wenn etwas schwierig ist, sagt man ja auch: Das wird ein Seilakt. Das meint es auch dann.“


„Das Seillaufen hat eine Ähnlichkeit zum Fliegen. Man schwebt über den Dingen. Man kann nach unten gucken, wie ein Vogel und läuft praktisch schwerelos in der Luft. Viele wollen das können. Mit dem Schönen kommt aber auch die Gefahr: Man könnte abstürzen.“


„Da denkt man sich auch: Warum machst du das alles eigentlich? Aber dann könntest du den ganzen Sinn des Lebens in Zweifel stellen: Für was macht man das eigentlich? Für was lebt man eigentlich? Es ist eigentlich verrückt, wenn man es sich mal überlegt: Der Mensch, was er alles konstruiert hat und entwickelt, nur zum Vergnügen des Menschen damit er die Langweile umgeht. Es fängt bei einem Spiel an. Das ganze Leben ist ein Spiel...“



*


Dich verbindet mit der Welt weit weniger als ein dünnes Stückchen Seil. Links und rechts ist nichts, rein gar nichts. Letztlich ist da nur du, und dein Seilakt. Die Kunst ist, in Balance zu bleiben, also weder eine Seite der Erfahrungswelt abzulehnen, noch eine Seite zu bevorzugen. Trotz allem, was mir zustößt, die Mitte (die Präsenz) nicht zu verlieren, ähnlich wie der Hochseilartist, der trotz des Schocks nicht genauso wie sein Kollege herunterfällt, sondern pariert.


Zur Imbalance und zum Runterfallen führt das Ablehnen der momentanen Ausnahmesituation. In Wahrheit ist sie jedoch die wohl größte Gelegenheit, die jeder von uns in seinem Leben bekommen wird. Denn genau jetzt tritt die Wahrheit in noch nie dagewesener Deutlichkeit und Direktheit zu Tage. Die Menschen zeigen zunehmend ihr wahres Gesicht: Sie haben keines. Sie sind ein Einheitsbrei, vertreten eine Einheitssicht, mit Einheitsgesichtern, einer Einheitsmeinung, einer Einheitshaltung, einem Einheitsweltbild. Da ist nichts bunt und vielfältig und tolerant, sondern da ist nichts weiter als: Eben die Einheitsmaske, die jeder zu tragen hat. Wow, aber manch einer hat einer schwarze Maske an, ist das nicht mal was anderes?


Die Einheitssicht ist die Ego-Sicht, die Sicht der Persona (was übrigens die Bezeichnung für Maske im altgriechischen Theater war). Die Persona versteckt sich vor der Welt.


Die Einheitssichtweise wird durch Gottschalk, Jauch und Klaus Kleber - den vertrauenswürdigen Herren und Damen aus der Kiste - in liebenswürdiger Manier mit netten Stimmen dem kleinen Bürgerlein intravenös verabreicht. Klein-Michel vertraut diesen schon seit Kindheit bekannten Gesichtern nicht nur, er huldigt deren Erscheinung. Wer würde es wagen die jemals für irrelevant zu erklären? Sie, in ihren schönen Anzügen, ihrem eloquenten Ausdruck.


Die Menschen denken alle das gleiche, reden alle das gleiche, fühlen alle das gleiche, sind durch und durch auf Linie geschaltet. Und auch diejenigen, die Anti-Mainstream denken, reden, fühlen, sind in Wahrheit nur Pingpong-Spieler an derselben Tischtennis-Platte. Sie spielen alle am selben Tisch mit, und alle reden sich ein, daß es nur dieses Spiel gibt; es gibt kein anderes, und niemand kommt auf die Idee, daß dieses Spiel gar nicht mitgespielt werden muß.


Es geht hier nicht nur um Politik: Was die Mama sagt, muß stimmen, denn schließlich hat sie einen auf die Welt gebracht, und dafür muß ich nun mal dankbar sein, denn jedes andere Empfinden macht mich zu einem Unmenschen. Und meine Freundin ist ganz alleine meine Freundin; wer sie auch nur anfäßt oder mit ihr flirtet stört diese schon immer so dagewesene, sichere Regel, die mir Sicherheit und Orientierung gibt; was nicht in diese Verhaltensbox paßt nennt sich Untreue, Betrug oder die Frau ist eine xxx. Und religiös ist nur jemand, der in eine Kirche geht, oder wer an Gott glaubt; jeder andere ist Atheist. Oder ein Beruf kann nur in eine der gängigen sozialversicherungspflichtig anerkannten Berufsbezeichnungen eingeordnet werden; alles andere existiert nicht; ein Beruf ist nur das, was Geld bringt. Oder ein Mann ist nur dann ein Mann, wenn er mit einer Frau Sex hatte; passiert das in einem Leben vielleicht kein einziges Mal, dann ist dieser Mann gescheitert.


Ich könnte ewig weitermachen: Jeder einzelne Gedanke, der einem da täglich umhergeistert, kann auf die Übereinkunft mit dieser Einheitsdenkweise überprüft werden. Es ist verblüffend, was da alles zu finden ist, denn praktisch nichts hat mit echten, eigenen Beobachtungen aus dem faktischen Leben zu tun. Fast alles sind übernommene Schemata, was ich glaube, was mir erzählt wurde, was mir als wahr verkauft wurde; besonders: was mir als wahre Lösung verklickert wurde. Praktisch jeder dieser Menschen ist ein programmierter Roboter, eine Biohülse, die nur noch die Programme abspult, die in ihn eingegeben wurden.


Auch die angeblichen Alternativen sind Nachplapperer. Die kommen nämlich wieder mit dem tollen Christentum, oder dem großartigen Konservativismus, den „guten, alten Werten“. Es ist die alte Einheitsdenke, nur in neuer Verpackung mit Schleifchen, damit sie nicht ganz so ausgewaschen und hohl wirkt, was sie in Wahrheit aber trotzdem ist.


Die Menschen bilden sich ein, diese Antwortattrappen könnten sie vorm Absturz bewahren, der zwangsläufig kommen wird, für jeden. Sie sind wie eingebildete Sicherheitsnetze unter dem Seil, die einen schon auffangen werden. Sie wissen nicht, daß alles, was sie haben, nur sie und ihre Performance sind. Da gibt es keine vergangenen Erkenntnisse, keine Verhaltensschablonen X, kein Rat von irgendwem, der ihnen im nächsten Moment weiterhelfen könnte, weil sich da wieder alles ganz anders zeigen könnte. Die Lage ist letztlich, daß wir auf dem Seil stehen, und daß da kein Sicherheitsnetz unten ist.



Es gibt keine allgemeine Übereinkunft, die für alle gelten kann. Was es nur gibt, ist die Kunst des Balancierens im Hier im Jetzt. Nur den nächsten Schritt...







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