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Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul

Ich komme nicht umhin, meine Eindrücke der türkischen Serie Bir Başkadır – Acht Menschen in Istanbul zu schildern, denn sie hallen mehr nach und greifen tiefer, als ich auch nur vermutet hätte. "Bir Baskadir" heißt hier übersetzt "Etwas anderes".


Vorweg: Ich bin über diesen Blogeintrag von Akif Pirinçci darauf gekommen. Zurzeit läßt es sich nur über Netflix ansehen.


Was mir auch wichtig ist: Ich möchte nicht weiter auf die Vergleiche zur deutschen Filmszene eingehen. Es sollte nämlich kein Geheimnis sein, daß wir es hierzulande mit einem jämmerlichen Brachland zu tun haben. (Einzig die deutsche Synchronisierung ausländischer Produktionen verdient Bestnoten. Das gehört wie ich finde nicht unter den Teppich gekehrt, da dahinter ja auch eine Menge Arbeit und Leidenschaft steckt.)


Außerdem interessiert mich die Meinung derjenigen nicht, die in den Szenen eine Kritik an der modernen, türkischen Gesellschaft sehen. Ich lebe nicht in der Türkei, also mich juckt es mich null, daß ihr da irgendwie ein Spiegel vorgehalten wird. Das ist nicht mein Problem.


Was mich hier bewegt ist zum Einen das oscarverdächtige, authentische Handwerk der Schauspieler, die so eine ungemein überzeugende Mimik an den Tag legen, daß es wirklich so wirkt, als wären sie tatsächlich 1:1 die gespielten Charaktere. Sie verleihen damit unverwechselbaren Tiefgang.


Zum anderen - und das ist viel wichtiger - zog mich die gesamte hintergründige, nachdenkliche Atmosphäre in den Bann, die all die Szenen durchzieht. Es gibt keine hektischen Bildwechsel, so gut wie keine Gewalt, dafür aber ungemein viele Pausen, Natur- und Stadtbilder, sehr viele lange, in die tiefe gehende Dialoge, in der jede Nuance, jedes Schweigen etwas aussagt und auch zu Konsequenzen führt. Nichts passiert aus Zufall, alles, von vorne bis hinten, jeder Blick, jedes Rümpfen mit der Nase, jede alltägliche, völlig banal wirkende Alltagsszene sagt etwas aus.


Ich muß sagen, daß für mich der, wie in der Türkei natürlich übliche, muslimische Hintergrund, eher ungewohnt ist, muß aber zugeben, daß er mir nach und nach immer vertrauter vorkommt. Die Türken haben etwas, was mich sofort einlädt und heimisch fühlen läßt, da mag man vom Islam halten, was man will. Die spirituellen Rituale, das Ehrerweisen und Sich-öffnen gegenüber dem geistlichen Lehrer vor Ort, die Gefühlsstärke, was hier kühler Geprägten oft wie Ungehaltenheit, Rückständigkeit oder Unreife vorkommen mag, hat eindeutig etwas Reinigendes. Es ist eben auch eine Selbstwertschätzung, die sich auch in kleinen Gesten ausdrückt.


Was mir ebenso gefällt ist, daß das normale, einfache Leben gezeigt wird, wie es nun mal für dich und mich ist. Keine Schönfärberei, sondern der normale Alltag mit Kochen, Putzen, Busfahren, Abends auf der Coach sitzen. Es scheint wohl, daß es trotz ein paar kleiner kultureller Unterschiede allen Menschen ähnlich geht. Und zu diesem Leben gehören natürlich auch die Krisen, die Tiefs, die Depressionen und Ernüchterungen, was ich ebenso authentisch finde, weil das Leben nicht einfach nur eine positive Aufwärtsentwicklung ist.


Was ich ebenso gut finde ist, daß es nicht "das Böse" gibt, wie es leider oft auch Filme haben, wo dann alles Schlechte auf eine Figur oder Gruppe projiziert wird, während man selber ja zu "den Guten" zählt (das beste Beispiel eines Antagonisten ist z. B. Lord Voldemort aus den Harry Potter-Büchern oder Der Imperator in Star Wars). Das Ding ist: So läuft das Leben nicht. Alles Schlechte ist nicht nur bei einem Menschen, der so abgrundtief schlecht und schlimm ist, daß er für alles herzuhalten hat. Ich halte es auch für keinen Zufall, daß dieses Muster ja auch eher in christlichen Ländern zu finden ist (z. B. eben England, USA), wo es ja auch durch die Projektion von Gott natürlich auch die Projektion eines Teufels geben muß. Im Islam dagegen ist Allah keine Überperson, sondern mehr etwas Unpersönliches, zwar auch übergeordnet, aber mehr als Gefühl, was deswegen keiner so direkt erfassen kann. Aber das Thema würde jetzt zu weit führen.


Wichtig ist hier der Punkt: Jeder Mensch lügt hier und da, keiner ist immer gut, und so ist auch keiner Superman, der immer herzlich und liebevoll über allem schwebt und nicht betroffen ist. Diese Serie schafft es dagegen, betroffen zu machen, zu involvieren, sich vor allem zu fragen: Wie würde ich in so einer Situation reagieren? Was wäre meine Lösung z. B. für dieses emotionale Dilemma, was diese Frau da plagt? Denn es ist durchaus realistisch, daß so etwas auch im eigenen Leben widerfahren kann. Und da hilft es nicht, jemanden als schuldig oder "böse" zu deklarieren, sondern es braucht einen anderen, schärferen, auch genau sezierenden Blick, der sich fragt, was tatsächlich die Ursache ist, was genau passiert ist, wo genau die Motive und Probleme liegen. Es braucht hier weit mehr Grips als schnelles Beschuldigen und Diffamieren.


Wer diesen Grips hat, dem seien diese Eindrücke unbedingt zu empfehlen. Aber wer sich durch die Kopftücher oder etwas andere Welt nicht abschrecken läßt, hat den wichtigsten Schritt bereits getan.


*


Was die Serie noch so interessant macht, neben diesem nüchternen Darstellen von Leben wie es ich nun mal darstellt, ist durchaus auch ein spiritueller Konflikt, der hier veranschaulicht wird.


Die Kritiker nannten das: Der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Das Ding ist nur: Es geht hier um keine Gesellschaft, weder in der Türkei, noch hier, noch in Amerika, noch in Afrika, noch sonst wo. Was ein Kollektiv versteht oder nicht, ist überall nebensächlich.


In der Türkei, und das ist anders als in Deutschland, steht der Mensch noch in einem viel prekäreren Spannungsfeld, denn dort spielt die Religion noch eine wichtige Rolle im Alltag der Menschen, vor allem auf dem Land. In der Stadt geht es, ähnlich wie auch hier in Deutschland eher säkular zu, d. h. das Newtonsche, mechanistische Weltbild ist da dominant.


Das Frappante ist, zu sehen, daß beide Weltanschauungen den Einzelnen völlig orientierungs- und perspektivlos zurücklassen. Die Religion liefert nur vage Gefühle und Andeutungen, die pauschal auf jeden übergestülpt werden, während moderne Richtungen, z. B. psychiatrische Ansätze, versuchen, durch Denken etwas aufarbeiten zu können. Auch Emotionen, die in Therapien durchaus aufkommen können, liefern noch kein Verständnis. Beides sind Sackgassen, die jeden im Stich lassen, der sich von ihnen Antworten erhofft.


Die eigentliche Antwort deutete ich schon gestern an: Das einfache Leben an sich. Die einfachen Begegnungen, die Wertschätzung des Moments, das Ankommen im Hier und Jetzt. Da gibt es keine Orientierungslosigkeit, sondern da bleibt nur Dankbarkeit. Und jeder ist bereits da, das ist das Verrückte.


Auch in dieser Serie ist das sehr schön zu sehen: Jeder Mensch ist bereits in seiner Eigenart, in seinem So-sein bereits liebenswürdig. Niemand braucht eine Therapie, einen von außen aufgestülpten Kontext, der ihn dahin wieder zurückbringt, sondern wenn jemand als natürliches Wesen so ist, wie es ist, ist alles gut und in Ordnung. Zu 100%!


Die Frage, wie man dahin wieder zurückkommt würde schon implizieren, man wäre davon weg, was gar nicht sein kann. Jeder ist bereits da, wenn er aufhört, sich durch seinen Verstand davon wegzubeamen. Und da haben z. B. Land- oder religiöse Leute den Vorteil, daß sie da gar nicht so viel drüber nachdenken. Das alleine ist nun natürlich auch nicht die Antwort, weil dadurch noch lange kein Verständnis darüber entsteht, was jetzt eigentlich Sache ist, aber zumindest wird dadurch das Leben nicht unnötig erschwert.


Der reflektierende Stadt-Mensch dagegen ist schon woanders, weil er durch Bildung und Aufklärung schon soweit in seinem Verstand verstrickt ist, daß es für ihn sehr gut wäre, sowas wie Beobachten und Deidentifizierung zu praktizieren, da nur so das Rattern und Denken über das eigene Leben aus einer neue Perspektive betrachtet wird.


Hier in Deutschland ist durch den praktischen Wegfall des Christentums, auch auf dem Land, dieses Spannungsfeld, zumindest auf dem ersten Blick so nicht ganz sichtbar (was es vielleicht auch gefährlicher macht, weil es trotzdem unterschwellig immer noch wirkt). Hier ist das Beispiel mit der Türkei ganz nützlich, weil diese Widersprüchlichkeit zwischen einerseits eiserner, steifen Rationalität und andererseits Glaube an übernatürliche Kräfte dort noch viel deutlicher zu Tage tritt.


Als Einzelner stellt sich deswegen dort wie hier die Frage, wie es sich in solch einer Landschaft zurechtfinden läßt. Und da gibt es eben nicht die Antwort, die für alles gilt, sondern jede Situation hat ihre eigenen Fragestellungen und Lösungen. Jedes Konzept, jedes Denkgebäude, jede pauschale Lehrmeinung kann das nicht ersetzen. Es muß sich immer wieder neu gefragt werden, was hier nun die Lösung ist, womit z. B. wieder das Beobachten so wichtig ist, weil das eben kein Konzept ist, sondern ein im Hier und Jetzt stattfindender, fast schon handwerklicher Vorgang. In dem Moment braucht es keine Religion mehr, keinen Glauben, aber auch keine naturwissenschaflichten oder therapeutischen Lehren mehr.


Der Wert dieser Filmserie ist, mehr diesen individuellen, persönlichen Blick zu schärfen, und zu erkennen, daß diese übergeordneten, von der Kultur gepriesenen, aufoktroyierten Schemata nichts weiter als Entfremdungen und Irreführungen sind. Die helfen dir nicht, sondern was dir hilft, ist deine eigene, unverfälschte Aufmerksamkeit.

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