Nach der Arbeit im Supermarkt gewesen. Die Beobachtungen, die ich da mache, werden aber sofort vom Verstand verdrängt:
Das geht so nicht. Du kannst doch nicht all diese Leute so bewerten. Das ist doch entwürdigend. Das stimmt doch alles gar nicht. Es ist doch alles in Ordnung. Das gehört sich nicht, andere einfach so anzuschauen. Du meinst wohl du bist was Besseres, hast den Durchblick.
Diese ganzen Manöver, Ausreden und Puffer mal beiseite gelassen: Die Menschen im Supermarkt sind geschlafwandelt. Teilweise schien ihre Kleidung wirklich Pyjamas zu ähneln. Gerade so haben sie es geschafft, sich im Raum zu orientieren, die Sachen, die sie brauchen zu finden. Sie haben aber mich oder andere Menschen gar nicht wahrgenommen, das, was vor ihnen gerade passiert. Die Farben, die Gerüche, die Kassiererinnen.
Ich finde das immer hochinteressant, z. B. wenn ich in der Schlange stehe. Was sind da eigentlich für Menschen noch da?, frage ich mich. Ich meine, ich lebe ja mit ihnen in der selben Stadt, in der selben Gegend. Wirken sie müde, gestreßt, genervt, matt? Oder ist da doch mal etwas gute Laune da? Sind da Kinder? Sind da schöne Menschen, wahre Wunder der Natur, die aber etwas Erschauderliches aus sich machen?
Ich weiß, wie das alles klingt: Komm, schau doch selber in den Spiegel. Wo bleibt da die Selbsterkenntnis? Du mußt mal bei dir anfangen. Laß doch die Leute in Ruhe. Es zeigt doch nur, daß mit dir was nicht stimmt.
Bla, bla, bla. Es soll nur verhindern, einfach das auszusprechen, was ohnehin jeder sehen kann, WENN ICH NUR DIE AUGEN AUFMACHE UND HINSCHAUE! Nämlich: Wo lebe ich hier eigentlich, was ist hier eigentlich möglich? Wohin steuert dieses Gemeinwesen hin? Geht das überhaupt hier in irgendeine sinnvolle Richtung, oder versackt nicht eher die Lebensenergie, bis sie irgendwann mal in Gewalt und Haßausbrüchen doch noch einen Kanal findet? Darauf scheint es nämlich hinauszulaufen, wenn die Unterdrückung der Lebensgeister mal nüchtern betrachtet wird.
Es ist die Angst, kein guter Mensch mehr zu sein, wenn die Mitmenschen so eine Abrechnung erhalten. Du merkst dann, daß du an dem Punkt völlig alleine bist. Jeder, wirklich jeder mit dem du darüber sprichst, wird dir das schlechtreden. Und auch das ist die Furcht vor der Realisierung der Tatsachen. Bloß nicht wirklich hinschauen. Bloß nicht! Dann würde ich nämlich plötzlich merken, daß da etwas gewaltig schief läuft. Ganz direkt vor der eigenen Nase. Nicht in irgendeinem Horror- oder Katastrophenfilm. Auch nicht in irgendeiner Doku über frühere Epochen, sondern jetzt, hautnah, du mittendrin, und voll gefragt.
Das ist zu viel verlangt für einen Menschen, der darauf nicht vorbereitet ist. Er muß schon in gewisser Weise dafür bereit geworden sein. Er muß erst merken, daß die normale Alltagswelt ihm keine Lebenschance gibt. Daß sie eine kreisende Schleife ist, mit Geburt und Tod, und dazwischen etwas Unterhaltung, Arbeit und Sex. Am Ende scheinbar ganz unbedeutend und nutzlos. Ich selber? Was, ich bin der Grund für das ganze Theater? Nein, nein, das ist doch nur ein schlechter Witz.
Und es wird ein schlechter Witz bleiben, solange da kein Rauskommen stattfindet. Und dafür ist die Grundvoraussetzung, daß ich sehe, daß das, was ich hier Tag für Tag im Supermarkt oder auf den Straßen erlebe, nicht normal sein muß! Muß es eben nicht! Herrschaftszeiten, das Leben muß so nicht sein. Es ist nur eine Übereinkunft, auf die sich die Mitglieder noch nicht mal geeinigt haben. Sie haben es einfach blind übernommen. Es wurde mir und ihnen erzählt, zuhause, im Fernsehen, in der Schule, in der Kirche. Und danach richten wir uns. Wie idiotisch.
Werde ich jetzt der große Guru, der alle da rausholt? Sicher. Mein Job ist, ein Guru für mich zu sein. Also diese Normen, Moralregeln und Kodexe nicht mehr als Richtlinie zu nehmen, sondern nach den Werten zu leben, die sich wirklich als hilfreich bewährt haben. Das finde ich momentan zurzeit z. B. in hochklassiger, realitätsnaher Literatur wie von Adalbert Stifter, oder in klassischer Musik von Antonio Vivaldi. Menschen, die wahre Schätze in diese Welt gesetzt haben. Hätte mich früher nie interessiert.
Ja, klingt hochgestochen, nicht? Nietzsche nannte das den Übermenschen. Der, der alle überflügelte. Ist doch eine schöne Vorstellung. Wieso denn nicht? Wieso nicht nach Höherem streben? Ist es nicht schon da? Hier, wo ich jetzt sitze? Passiert nicht jetzt etwas, von der Qualität eines Goethe, Stifter, Bach oder was weiß ich wem? Wieso nicht? Wieso nicht so leben? Wieso sich nicht selber so sehen? Aus dieser Perspektive? Was hindert einen daran? Was wäre daran falsch? Einfach zu wissen, daß hier etwas Zeitloses entsteht.
Die oben genannten, kennt heute fast jeder. Weil sie ihre Zeit genutzt haben. Sie haben jede kostbare Minute ihrem Werk gewidmet. Ihr Werk war ihre Berufung. Sie waren ihr Werk. Sie haben dafür ihr Leben gegeben, ihre Freizeit geopfert, wenn sie in einem zeitintensiven Job aktiv waren, Familie, Freunde, Bekannte in der Priorität zurückgestuft, um ihrer Aufgabe zu folgen.
Dieser Anspruch ist da. Und es gibt genauso Menschen solchen Kalibers in unserer Zeit. Es gilt sie zu finden, und von ihnen zu lernen. Wahrhaftige Menschen, voller Energie und Tatendrang. Aber natürlich auch unbequem, kompomißlos, waghalsig. Das gibt Power. Das beflügelt auch erst eine Kultur. Nicht die Kritiker und Renommierten, die machen sich nur wichtig. Die wahren Meister werden erst im nachhinein bekannt. Dann, wenn es leicht ist, sich mit ihnen zu befassen, weil nicht mehr die Wucht des persönlichen Kontaktes droht, der erschüttert, herausfordert, verändert.
Das mal dazu, was mir zurzeit wichtig ist.