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Vordergrund-Hintergrund-Effekt


Gestern und heute haben sich einige Veränderungen in meiner Wahrnehmung ergeben. Es war mehr ein Vordergrund-Hintergrund-Effekt da, so als wäre ich vorne ein Mensch in all seinen Facetten, Gedanken, Stimmungen mit all seinen charakterlichen, körperlichen Prägungen, und hinten immer einfaches Beobachten davon, völlig emotionslos, neutral und ohne Involvierung. Das ist in der Art völlig neu, auch wenn das tatsächlich schon mein ganzes Leben so war, nur unmerklich. Kein Herumgebastel, kein Krebsen nach besseren Zuständen. Vorne wird alles genauso erfahren wie vorher auch, hinten aber ist noch etwas, was immer übersehen wurde, aber das Interesse wächst, sich dort einzurichten.

Das ist die eigentliche Befreiung! Nicht als Mensch irgendwie voranzukommen, etwas loszuwerden , wie schon in den letzten Einträgen erwähnt etwa abgeklärter, fitter oder erfolgreicher zu werden, sondern ich kann vorne sogar ein vollkommener Trottel sein, völlig hilflos, dumm, ja verrückt wirken, es wäre alles nicht wirklich von Bedeutung. Natürlich, für alles was vorne passiert mag das sein, da werde ich z. B. möglichst professionell im Job, vor Kunden usw. auftreten, aber das ist einfach die Erfordernis der Situation.

Ich verstehe jetzt auch, was mit Nicht-Handeln gemeint ist.: Es ist kein passives Sich-zurücklehnen, sondern ein Tun, was gerade eben aktuell ansteht, und ein Lassen von dem, was nicht notwendig ist. Gradmesser ist hier die einfache Erfordernis der Situation. Wenn z. B. etwas geplant wird, etwa ein Handlungsablauf in der Arbeit, dann wird das durchgegangen, wobei es sehr oft passiert, daß doch etwas anders ist als gedacht, und dann spontan eine andere Herangehensweise nötig ist. In dem Fall baut sich etwas dann quasi wie von selbst, weil ich immer Schritt für Schritt im Hier und Jetzt zur nächsten Handlung komme, wie Wasser, was dahinfließt, wo es gerade eben weitergeht.

Gestern war ich z. B. ziemlich gestreßt, weil die Maschine mit der ich gearbeitet habe, mit der Zeit schief geschnitten hat, so daß ich einige Zeit lang hartnäckig schauen mußte, sie wieder so zu schleifen, daß sie gerade schneidet. Es war ein ziemlicher Aufwand, und hat richtig Nerven gekostet. Es wurde nämlich auch sehr schnell dunkel, und damit auch die Notwendigkeit fertig zu werden. Von Gelassenheit oder Losgelöstheit kann dann nicht die Rede sein. Und doch ist das Wissen da, daß es vorne ist, vorne ist alles extrem wichtig, vorne geht es um Erfolg oder Mißerfolg, Wohlstand oder Armut, oder auch um Gesundheit oder Krankheit, Krieg oder Frieden, Leben oder Tod, Aufschwung oder Verfall. Da hat alles hat sicher seine Berechtigung. Aber es ist alles nur dann total ernst und relevant, solange das hinten vergessen wird, welches all das nur bezeugt, was mal funktioniert, mal kaputtgeht, mal klappt und mal vor die Hunde geht. So ist ja alles, was ich und andere da im Garten bauen, vielleicht für zehn, zwanzig, mit Glück dreißig, vierzig Jahre da, und dann wird es vielleicht wieder abgerissen, so wie wir das ja immer vor einem neuen Projekt mit alten Bauwerken machen. Zack, und weg ist das, was jemand anderes vor ein paar Jahren oder Jahrzehnten mühselig aufgebaut hat. Wenn derjenige das mitbekommen würde?, denke ich manchmal. Und: Was ist also dauerhaft?

Mir geht es jetzt nicht darum die Wichtigkeit von Arbeiten schlechtzureden. Ich will einfach die Perspektive umdrehen: Worum geht es da wirklich? Für mich geht es viel mehr um die innere Erfahrung dabei, eben die Aufwühlung, wenn etwas nicht so ganz klappt, die Freude, wenn etwas läuft, das Teil-sein eines Prozesses, wie es sich entwickelt. Das Endergebnis ist dann sicher nett anzusehen, sicher auch das Geld auf dem Konto, aber all das ist schon zweitrangig, weil es dann wieder den Handelnden anspricht, der etwas meint getan oder geschaffen zu haben. X hat das gemacht. Wenn ich aber gestreßt bin, oder wenn etwas ästhetisch auf mich wirkt oder technisch funktioniert, dann bin ich nicht der Handelnde, ich sehe, wie etwas mit mir passiert, wie mich eine Wahrnehmung überkommt. Es ist dann ein Sein, nichts Totes mehr. Wenn ich das Foto z. B. von einem alten Bauprojekt sehe, dann ist das alleine ein totes Ding, ohne Leben, an dem die meisten Menschen wohl einfach vorbeigehen werden, weil es nichts Spektakuläres ist. Ich dagegen werde den Aufwand sehen, den ich da reingesteckt habe, wie sich das Material z. B. der Granit angefühlt hat, die Rauheit, die Farbe, wie viel Aufwand es an Hirnschmalz, an Überlegungen war, die Probleme mit denen man da konfrontiert war, was Entwässerung angeht, was unerwartete Anpassungen anging, Änderungen im Bauverlauf, oder einfach das Gewicht des Materials im Schubkarren, der Geruch des geschnittenen Steines, der Erde, des Klebers, des Betons, des Zements, des Diesels, usw. usf. 

Mich macht das alles sehr demütig. Ich habe dieser Aufgabe gedient, sie ist mein Lehrmeister. Dadurch bekommen all diese scheinbar unbelebten Gegenstände fast schon eine Seele. Es sind nicht einfach nur wahllose Produkte und Materialien samt Werkzeugen, von hier nach da gehievt, einbetoniert, beschnitten oder benutzt sondern sie haben Transformationskraft, für einen selber. Und das ist unter dem Aspekt auf jeden Fall von Wert. Selbst wenn ich vielleicht nicht der Beste in meinem Fach bin (da gibt es sicher viele die besser sind), selbst wenn andere viel mehr wissen, schneller sind, oder nie Unsicherheiten haben und Fehler machen, mich vielleicht nur müde belächeln würden, alles nebensächlich. Ich hoffe Chefs, Kollegen oder Kunden werden das nicht lesen, denn es kann hochgradig mißverstanden werden, als Art Unverantwortlichkeit, jemand, der nicht die nötige Ernsthaftigkeit an den Tag legt, woanders seine Prioritäten hat. Ich sehe es aber genau umgekehrt: Je mehr unnötige Egoanteile eine Rolle spielen, desto weniger erfüllt sich der Sinn eines Tuns. Je geläuterter ich bin, durch Dinge wie Mißfunktionen, die unerwartet laufen, desto besser kann ich mich einer Aufgabe und seinen Anforderungen fügen, ohne Lamento, ohne Groll, ohne Reibungen. Ich bin dann im wahrsten Sinn Teil des Projekts, nicht irgendwie außenstehend, uninvolviert, sondern erst recht drin, so erfahre ich das zumeist. Das mag im Auge des genannten Vordergrund-Hintergrund-Effekts als widersprüchlich erscheinen, ist es aber nicht, weil das gefestigt sein im einen, das Tun im anderen nicht ausschließt, und nicht nur das: Erst dann ist es ergiebig, nicht nur lästige Pflicht oder Ablenkung. 


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